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Geborgenheit in Unsicherheit

Geborgenheit in Unsicherheit

Präsenz-Gottesdienste in Corona-Zeit
Hamburg, den 29.01.2021

Impulspapier des 1. Vorsitzenden der GGE Nord Jochen Weise

Hier auch als PDF zum Download

In einer Zeit tiefer gesellschaftlicher und vielfach persönlicher Orientierungslosigkeit,
in einer Zeit, die an keinem spurlos vorbei geht und viele von uns mürbe macht,
in einer Zeit, in der auch Menschen der Gemeinde gepeinigt, krank und
in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz gefährdet sind,
fragt die Gemeinde zurecht: Wie handeln wir als Christen*?

Dabei hat die christliche Gemeinde ein ganzheitliches Bild vom Menschen.
Für sie ist der Mensch mehr als ein Körper und die Gesundheit nicht das höchste Ziel.
Christen halten allein das Heil in Jesus Christus für lebensnotwendig (Solus Christus).
Hier Halt zu finden und aus Glauben zu leben, ist immer wieder neu dem Menschen und
der Gemeinschaft der Heiligen als Aufgabe gestellt.

Im Folgenden stelle ich 8 Gedanken vor, die es zu diskutieren und zu verbessern gilt.
Dabei fasst der fett gesetzte Text den Gedanken in leichterer Sprache zusammen.
Der normal gesetzte Text ist ein Kommentar und etwas komplizierter formuliert.
Die Klammern im Text geben Hinweise, woher der Gedanke, die Aussage kommt.
Am Ende stehen die fett gesetzten Sätze noch als Kurz-Zusammenfassung zum Lesen.

1.
Der gemeinsame Gottesdienst ist der Mittelpunkt des Christseins ...

Wir Christen versammeln uns zum Gottesdienst, um gemeinsam Gott zu ehren,
zu loben und zu danken. Hier hören wir sein Wort, bekommen es in der Predigt ausgelegt und
empfangen es in Brot und Wein (Mt 4:23; Mt 18:20; Eph 5:19; 1Tim 2:1; Hebr 10:24.25).
Hier fokussiert sich unser Glaube, relativiert sich im Blick auf Jesus unser Leben und 
verbinden sich Himmel und Erde.

2.
… wenn wir den nicht mehr haben, stehen wir in der Gefahr,
uns und unseren Glauben zu verlieren

In einer Welt (Corona-Zeit), in der häufig Sorge, manchmal Angst regieren, schwinden Vertrauen,
Verlässlichkeit und Geborgenheit (VUCA-Welt). Zurück bleiben viele verunsicherte und
häufig einsame Menschen. Ich beschreibe damit nicht nur den Zustand der Welt,
sondern auch die Situation vieler von uns in der christlichen Orts-Gemeinde.

3.
Deshalb halten wir aus seelsorgerlichen Gründen und
aus dem Liebesgebot am Angebot des Gottesdienstes fest

Wir Leiter in der Gemeinde reagieren mit vernünftiger Verantwortung (Hygiene-Konzepte) und
vernünftiger Gelassenheit (Präsenz-Gottesdienste) auf die Bedrohung des gewohnten Lebens.
Dabei tragen wir die gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen mit (Röm 13:1). 
Wir handeln aus dem Geist in Liebe und sehen die Präsenz-Gottesdienste als genuinen Auftrag 
(Synagogen-Gottesdienste) und als einen Akt von Seelsorge (Mt 6:33; Mt 22:36-39).
Wir wissen: „Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders“
(Dietrich Bonhoeffer).

4.
Wir wissen, dass Gemeinschaft das Immunsystem und die Widerstandskraft stärkt und
dass christliche Gemeinschaft das Gute im Sinne Gottes in uns fördert ...

Wir wissen, in der Krise zeigt sich der Charakter des Menschen (Helmut Schmidt).
Wir wissen auch, Gemeinschaft stärkt! „United we stand, divided we fall“
(The Liberty Song; Mt 12:25; Mk 3:25; Lk 11:17).
Wir wissen, wir brauchen einander, um das Gute zu fördern (Resilienz).
Der Verein der Präventologen (Welt) schreibt: Gemeinschaft stärkt Gesundheit!
Deshalb brauchen wir Gottesdienste, nicht nur aus geistlichen Gründen (Soteriologie),
sondern auch für die Gemeinschaft. Als Menschen sind wir Ebenbilder Gottes, nämlich Beziehungs- 
und Gemeinschaftswesen (Schöpfungstheologie) und brauchen den Zuspruch Gottes und der Gemeinschaft.
Am Altar Gottes empfangen wir den Zuspruch seiner Gnade und den Zuspruch seines Segen.

5.
... und uns mehr wie Jesus sein lässt

Viele von uns möchten an ihrem Charakter arbeiten und sich nicht von Sorgen und Ängsten,
nicht von Menschen und Gruppen, nicht von Mächten und Regierungen bestimmen lassen.
Sie möchten im Geist Jesu (Glaube) und im Geist der Aufklärung (Vernunft) handeln (2Tim 1:7).
Kant forderte: „Sapere Aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“.
Viele von uns möchten deshalb selbständig hören, denken,
handeln ohne Fremdbestimmung und verantwortungsvoll agieren.
Wissend, sich für ihr Handeln vor Gott, sich selbst und dem Nächsten verantworten zu müssen.
Um das verantwortungsvoll, biblisch, christlich zu leben, brauchen wir ein Gegenüber, ein Du und
eine Gemeinschaft, reift doch das „Ich“ am „Du“ bzw. „Wir“ (Ich-Du-Philosophie Martin Buber).
„Übernimm Verantwortung für Dein Leben und dazu brauchst Du das Feedback der Gemeinschaft.“

6.
Somit dienen wir mit den Präsenz-Gottesdiensten einander,
wie das Pflegepersonal und Ärzte den Menschen dienen

Wir Leiter in der Gemeinde sind in Kontakt mit den Verängstigten und Älteren sowie
den Kranken und Schwachen der Gemeinde.
Wir sind in Verbindung mit Pflegepersonal und Ärzten.
Wir sehen wie Pflege, Medikation und leibliche Versorgung geschieht;
sie geschieht am Menschen, unabhängig wie ansteckend oder krank der Mensch ist.
Das war so, ist so und wird aus christlicher Perspektive immer so sein.
Wir Leiter könnten dem Pflegepersonal und den Ärzten nicht mehr in die Augen schauen,
wenn wir durch den Verzicht auf den Gottesdienst dem einzelnen Menschen und
der Gemeinschaft die geistliche Nahrung vorenthalten bzw. nicht zugänglich machen.
Würden wir doch damit dem Pflegepersonal und den Ärzten sagen: 
„Ihr seid verantwortungslos, weil Ihr Euch in Gefahr begebt!“
Gleichzeitig würden wir den Gottesdienst als nicht notwendig verstehen.
Das können und dürfen wir nicht!
Der Gottesdienst, der Empfang von Gottes Wort, des Abendmahls (Sakrament) und
das gemeinsame Singen (Sprechen) als Antwort der Gemeinde sind gnädiges Angebot und
zugleich Auftrag Gottes an die Gemeinde, dieses umzusetzen als Dienst für den Menschen.
In Treue zum Herrn und zu unserem Auftrag als Leiter müssen wir daher standhaft bleiben und
jedem, der zum Altar und zum Gottesdienst gehen möchte, diese Möglichkeit bieten.
Dieses Recht hat jeder nicht nur von Gott und seiner Kirche,
sondern auch von unserer Verfassung (GG).
Kein Staat und keine demokratische Gesellschaft hat das Recht, dies zu verbieten.

7.
Wir wissen, dass wir uns mit einem Dienst am Menschen (Menschendienst) gefährden,
wie sich auch heute Verfolgte Christen (Gottesdienst) für den Glauben in Gefahr bringen

Die Gemeinde Jesu erinnert sich innerhalb eines Kirchenjahres immer wieder bewusst der Christen,
die unter Verfolgung leiden. Ein Sonntag wird normalerweise diesem Thema gewidmet und
liturgisch gefeiert. Die besondere Situation wird der Gemeinde vor Augen gestellt und
daran erinnert, dass Verfolgungszeit zum Christsein gehört (Mt 5:10; 2Kor 12:10; 2Tim 3:12).
Die Geschichte der 49 Märtyrer von Abitene im heutigen Tunesien darf uns ein Vorbild sein.
Sie feierten gegen einen Erlass von Kaiser Diokletian im Jahre 304 an einem Sonntag Abendmahls-
Gottesdienst und sagten, als die Soldaten des Kaisers kamen: „Sine dominico non possumus“ –
Ohne Sonntag (Gottesdienst) können wir nicht leben. 
Natürlich können wir unsere Situation nicht mit Abitene oder den Verfolgten Christen vergleichen, 
aber wir wissen, wo ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit (1Kor 12:26). 
Deshalb muss dem, der es braucht, die Möglichkeit zum Gottesdienst gegeben werden.
Die Erinnerung der Gemeinde im Kirchenjahr soll Bereitschaft zum Zeugnis und Standhaftigkeit im
Glauben bewirken. Wir Leiter könnten den Verfolgten Christen nicht mehr in die Augen schauen,
wenn wir durch den Verzicht auf den Gottesdienst, das Glaubenszeugnis der Gemeinschaft und
ihr Recht auf gottesdienstliche Versammlung für unnötig erklären würden.
Wir würden die, die sich verbotenerweise und trotz Bedrohung in Wäldern und Verstecken treffen,
um Stärkung durch Gemeinschaft (Koinonia) zu erfahren und dabei ihr Leben und
das ihrer Familien aufs Spiel setzen, für verantwortungslos, töricht und lieblos erklären.

8.
Wir Leiter der Gemeinde halten den Präsenz-Gottesdienst für notwendig,
können aber verstehen, wenn man aufgrund eigener Überlegungen diesen meidet.
Wichtig ist es für alle, in Kontakt zu bleiben und
die unterschiedlichen Entscheidungen in Liebe mit zu tragen

Wir Leiter der Gemeinde tragen Verantwortung nicht nur für die Starken im Leben und im Glauben, 
sondern auch für die Schwachen im Leben und im Glauben oftmals ohne genau zu wissen, 
wer momentan stark oder schwach ist.
Das Verhalten der Gesamtgemeinde soll von Glaube, Hoffnung und Liebe geprägt sein.
Die Aufrechterhaltung des geistlichen Lebens des einzelnen Mitglieds und
der gesamten Gemeinde muss im Blick der Leiter der Gemeinde sein.
So soll das Tun der einen nicht zum „Verwerfungsurteil“ über das Lassen der anderen werden.
Manch ein Gemeindeglied ist verängstigt und entzieht sich der Gemeinschaft.
Einige kommen zu einer anderen Entscheidung und Haltung aufgrund eigener Analyse,
Reflexion und Diskussion und handeln anders in vernünftiger Verantwortung, als vorgegeben.
Das darf sein mit der Auflage an alle, diese Unterschiedlichkeit in Liebe zu tragen:
„Ein jeglicher sei seiner Meinung gewiss!“ (Röm 14:5).

Die 8 Gedanken sind eine Gesprächsgrundlage.
Sie sind keine Vorgabe oder letzte Weisheit.
Wir sind alle fehlbar und brauchen einander,
um auf dem richtigen Weg zu bleiben und zu sein.
Somit lasst uns darüber sprechen und
einander in unserer Unterschiedlichkeit annehmen und
immer wieder Gott um seinen Hirtendienst für uns persönlich und
für die Gemeinde bitten.


Kurze Zusammenfassung der 8 Gedanken:

Der gemeinsame Gottesdienst ist der Mittelpunkt des Christseins;
wenn wir den nicht mehr haben, stehen wir in der Gefahr, uns und unseren Glauben zu verlieren.
Deshalb halten wir aus seelsorgerlichen Gründen und
aus dem Liebesgebot am Angebot des Gottesdienstes fest.
Wir wissen, dass Gemeinschaft das Immunsystem und
die Widerstandskraft stärkt und
dass christliche Gemeinschaft das Gute im Sinne Gottes in uns fördert und
uns mehr wie Jesus sein lässt.
Somit dienen wir mit den Präsenz-Gottesdiensten einander,
wie das Pflegepersonal und Ärzte den Menschen dienen.
Wir wissen, dass wir uns mit einem Dienst am Menschen (Menschendienst) gefährden,
wie sich auch heute Verfolgte Christen (Gottesdienst) für den Glauben in Gefahr bringen.
Wir Leiter der Gemeinde halten den Präsenz-Gottesdienst für notwendig,
können aber verstehen, wenn man aufgrund eigener Überlegungen diesen meidet.
Wichtig ist es für alle in Kontakt zu bleiben und
die unterschiedlichen Entscheidungen in Liebe mit zu tragen.

Die 8 Gedanken sind eine Gesprächsgrundlage.
Sie sind keine Vorgabe oder letzte Weisheit.
Wir sind alle fehlbar und brauchen einander,
um auf dem richtigen Weg zu bleiben und zu sein.
Somit lasst uns darüber sprechen und
einander in unserer Unterschiedlichkeit annehmen und
immer wieder Gott um seinen Hirtendienst für uns persönlich und
für die Gemeinde bitten.


Jochen Weise, 1. Vorsitzender der GGE Nord 
in Rücksprache mit Pfarrer Dr. Werner Neuer (Schallbach)

* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung weiterer Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.